1000 Tode

Unser ganzes Leben lang lernen wir loszulassen. Manchmal dürfen wir, manchmal müssen wir.


1000 Tode

Windeln loslassen, elterliche Hand an der Kindergartentüre loslassen, Schule verlassen, Elternhaus verlassen, Feindbilder loslassen, alte Freunde loslassen, Wohnort loslassen, Job loslassen, Freund/Freundin loslassen, Wünsche, manchmal auch ehemals gesteckte Ziele loslassen, geliebte Menschen gehen lassen, geliebte Haustiere gehen lassen, 1. Auto verschrotten, Heimat verlassen, Ehe loslassen, Kinder ins Leben entlassen, Arbeitsjahre loslassen, glatte Haut loslassen, Haare loslassen, Jugend loslassen, Zähne loslassen…

 

Wir alle sterben 1000 Tode in unserem Leben.

 

Auch wenn diese Tode nicht physischer Natur sind, so können sie uns unter Umständen physisch doch schwer mitnehmen. Psychisch tun sie das in jedem Fall, mal mehr, mal weniger.

 

Unser ganzes Leben lang lernen wir loszulassen. Manchmal dürfen wir, manchmal müssen wir. Dabei kann Loslassen sowohl erleichternd, bereichernd wie ebenso schmerzhaft sein.


Manchmal meistert man Loslassen einfach durch Seinlassen.


Also durch Akzeptanz und Annahme als Antwort auf das Leben. So bleiben wir stetig im Fluss und reiben uns nicht über die Maßen auf, sparen Ressourcen und Energie und gewinnen (Lebens-)Freude zurück.

Wenn das immer so einfach wäre. Besonders wenn menschliche Verbindungen sich verändern oder gar auflösen, spüren wir die Schwere des Loslassprozesses.


Und ja, Schmerz, Trauer und inneres Aufbegehren bis hin zur Verneinung, all das darf und soll auch Raum finden. Sonst wären wir keine fühlenden Wesen, sonst hätte nie eine Verbindung bestanden. Sofern uns dieser Schmerz aber am Ende nicht in die Weiterentwicklung (Entfaltung nach Verpuppung) bringt, beginnt es ungesund zu werden und wird zu dem, was wir vermeiden wollten: einem Sterben.


Einem inneren Absterben oder Abkapselung eines Teils von uns. Im schwersten Falle also, um es in medizinischer Nomenklatura auszudrücken, einer Dissoziation, um mit dem restlichen Sein doch noch irgendwie weiterbestehen zu können.

 

In den nachfolgenden Gedankengängen möchte ich nicht auf die schweren Traumata eingehen, die genau diesen Überlebensmechanismus herausfordern können. Ich möchte die alltäglichen kleinen Tode ins Licht rücken, vielleicht ein wenig ihren Schrecken nehmen, um leichter leben zu können in diesem Leben.. und wer weiß, vielleicht auch dann, wenn wir unser irdisches Kleid abgelegt haben...


Nun, diese Betrachtung wird vermutlich nicht von jedem geteilt, muss sie auch nicht zwinglich, denn es ist nicht meine Intension, eine ganze Weltanschauung in Frage zu stellen. Über die eigene Sicht der Welt befindet jeder selbst.

Jedes Loslassen zeigt uns deutlich unsere Verbindungen und unsere Anhaftungen an.


Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass wir nunmehr ein asketisches Leben führen sollen, frei von jeglichen Verbindungen und ohne Hab und Gut, hungernd nach Leben, leiblicher und seelischer Nahrung und sich minütlich am besten selbst dem Tode weihend.


Wir sollten uns vielmehr einen freien, eigenen Raum in uns schaffen, der Lebensbejahung auslöst.

 

Das bedeutet, Balance zwischen Freude am Tun und am Haben, Freude an Verbindungen gepaart mit dem wachen  Bewusstsein, dass praktisch alles auf dieser Welt ein Geschenk auf Zeit ist.


Wie oft haben wir diese Zeilen schon gelesen oder gehört, zustimmend genickt und uns doch weiter das Leben selbst schwer gemacht, um Entscheidungen gerungen, schreckliche Verluste erwartet, nur um im Rückspiegel der Geschichte wieder einmal erkennen zu müssen:


So manchen Tod haben wir dann doch gebraucht, um zu wachsen, um freier zu werden, um Raum für das Leben zu schaffen

Wie lässt man los?

Erkenne dich selbst und den Löwen hinterm Busch


Vorneweg, loslassen ist nur dann leicht, wenn man es will, wenn man es mit Freude verbindet, wenn man etwas Beschwerliches bewusst loslässt.


So einfach ist das in den seltensten Fällen, meistens geht Loslassen mit einem anstrengenden Bewusstwerdungsprozess einher. Sprich, man hat sich bereits eingehend mit einer Thematik befasst. Vorbereitung bringt Bodenhaftung.


Und Vorbereitung geschieht am sinnvollsten, wenn mit Mut, Herz und Verstand. Jedes rein verstandesmässige Loslassen ist am Ende kein Loslassen. Es muss das innere Gefühl, ein inneres Wissen einhergehen, dann kann loslassen viel leichter geschehen.

Und manchmal braucht das Herz die schützende Hand des Verstandes, der es beschützt und leitet.


Dafür benötigt es Mut, den Blick immer wieder auf sich selbst zu werfen, und sich beispielsweise folgende Fragen zu stellen:


  • Was könnte im schlimmsten Fall passieren?
  • Bist du sicher, dass das passieren würde?
  • Welche Ressourcen habe ich bereits, um einem kurzen Vakuum zu begegnen?
  • Gäbe es überhaupt ein Vakuum?
  • Welche Ressourcen sollte ich aufbauen vor meiner Entscheidung?
  • Besitze ich überhaupt, was ich meine verlieren zu können?
  • Wenn ich meinen Blick 180 wende, was gibt es bereits an Gutem, das ich zum Wachsen bringen könnte?



Loslassen braucht also Vorbereitung.

 

Wie wir alle wissen, geschieht genau dies eher seltener. Häufiger befinden wir uns mitten in einer Situation, die uns klar sagt, lass los - und wenn es nur ein paar Kilos Gewicht sind. Aber, wir sind innerlich nicht ernsthaft bereit dazu, denn meistens haben wir uns nicht eingehend mit der zugehörigen inneren, vielleicht auch noch verborgenen Thematik befasst oder halten einfach an Gewohntem, sprich vermeintlicher Sicherheit des Bekannten fest.

 

So ticken wir nun einmal. Hinter jedem Busch könnte eine Gefahr lauern und hinter jedem Kilo weniger könnte ein neues, unbekanntes Leben stecken. Darauf sind wir auch nicht immer vorbereitet.

  

Manchmal hilft es, wenn man nicht am wunden Punkt arbeitet, sondern dort, wo es ebenso nötig, aber bei weitem nicht so „gefährlich“ erscheint. Um am Thema Gewicht zu bleiben. Es könnte hilfreich sein, stattdessen die Küche neu zu gestalten oder alte, viel zu kleine Klamotten wegzuschmeißen. Es bringt nichts, eine viel zu kleine Sehnsuchtshose, die nur wie eine böse Klagemauer im Schrank rumhängt, ewig für schlankere Zeiten aufzubewahren. Sollten die eintreffen, wird vermutlich genau diese Hose (durch alle Kleidungsstücke austauschbar) eben nicht mehr schick sein, oder doch genau eine Größe zu groß oder zu klein sein. Man könnte sich ein neues Hobby suchen, malen, tanzen, häkeln, Kinobesuche oder ein altes überholtes Hobby endlich an den Nagel hängen. Der nervigen Freundin könnte man endlich mal die Meinung sagen oder sich wenigstens trauen, ihr öfter mal Nein zu sagen.


So mancher Partnerschaft würde ein wenig Hausputz ebenso guttun. Am besten, du beginnst im Kleiderschrank deiner eigenen Seele und genießt die Veränderung, die sich im besten Falle sogar wie von Zauberhand bei deinem Partner einstellt. Vielleicht sogar ganz unaufgefordert.


Jede Veränderung ist immer ein Loslassen zugleich.

 

Viele kleine Heldenreisen fordert das Leben von dir aber machen dich am Ende zur Heldin, die du schon lange wirklich bist. Und mit so manchem kleinen Kampf, erfolgreichen Sieg, erscheint so manche ehemalige Herausforderung plötzlich nur noch halb so groß oder stellt vielleicht gar keine mehr dar?

Und wenn doch ein Löwe hinter dem Busch steht?

Natürlich kommen wir in diesem Leben auch in schwer erträgliche Situationen.


Müssen loslassen, was oder wen wir dachten, nicht loslassen zu müssen und es schon gar nicht wollten. Auch vorbereitet waren wir nicht. Auf den plötzlichen Tod eines nahestehenden Menschen ist man nie wirklich vorbereitet, wer will sich darauf schon vorbereiten?

 

Und doch, wenn wir uns täglich wenigstens einen kurzen Moment darauf einstellen, dass geliebte Menschen, auch Tiere, nur ein geliehenes Geschenk des Lebens sind, wenn wir uns selbst mit der letzten großen Loslassthematik dieses irdischen Lebens auseinandersetzen, können wir gerade daraus lernen, uns umso mehr dem Leben und unseren Lieben zuzuwenden.


Wir können lernen, uns nicht in Dankbarkeitsfloskeln zu verlieren,

sondern gelebte Wertschätzung jeden Tag aufs Neue zelebrieren.

 

Vielleicht sterben wir nicht umsonst „1000 Tode“ im Leben. Vielleicht ist genau das die Schule des Lebens, die uns lehren möchte, uns der letzten großen Heldenreise vorbereiteter hingeben zu können.


Annette

Januar 2025

Auf den Verlust eines Menschen ist man nie wirklich vorbereitet.


Aber sein eigenes Weitergehen kann man vorbereiten.

Das beinhaltet neben wichtigen Formalitäten wie Verfügungen  und geordnetem "Papierkram" auch das bewusste Beschäftigen mit der letzten eigenen großen Reise. Persönliche Fragen, persönliche Verbindungen, Gesagtes und Unausgesprochenes, Wünsche und Hoffnungen, Warheiten und Lügen, können geklärt werden. Herzensruhe kann so einkehren.


Mehr Gedanken hierzu folgen in Kürze in einem weiteren Artikel